LA RAYNE

As If

Posted by on Mai 10, 2016

Murat ist bei mir in der Beratung. Er sitzt nachdenklich auf dem Stuhl. Ich erkundige mich nach seinem Lebenstraum. Er ist elf Jahre alt und besucht die fünfte Primarklasse. Ein schelmisches Lächeln huscht über sein Gesicht. Er möchte einen Porsche besitzen. Das wäre cool. Er stellt sich vor, wie ihn seine Freunde bewundern und wie er sie zu Spritztouren einlädt. Er betont: „Ein solcher Porsche ist sehr teuer!“

Ich denke laut nach und sage, dass er einen Beruf haben müsste bei dem er viel verdient. Bei seinen Schulleistungen zweifle ich, ob ihm das gelingen wird. Besonders wenn ich daran denke, wie er widerwillig seine Hausaufgaben erledigt. Vorsichtig erkundige ich mich, wie er sich ein solches Auto kaufen möchte. Er zuckt die Schultern. Als ich frage, was für einen Beruf er lernen möchte, runzelt er die Stirn und nach langem Nachdenken meint er, er würde gerne in einer Autowerkstatt arbeiten. Gemeinsam schauen wir im Internet nach, welche Berufe es gibt. Als er sieht welche schulischen Vorbildungen notwendig sind, stöhnt er. Er hat keine Ahnung, was er tun könnte, damit seine Noten besser werden. Als ich ihn frage, ob er auch schon für etwas Geld gespart habe, schaut er mich zweifelnd an. Ich erfahre, dass er noch nie eigenes Geld gehabt hat. Die Idee mit seiner Mutter über Taschengeld zu sprechen, gefällt ihm. Seine Mutter setzt sich zu uns und hört zu. Sie nickt zweifelnd und meint dann, dass sie wohl zwei Franken für Murat abzweigen könnte. Eine Woche später erkundige ich mich bei Murat, was er mit seinemTaschengeld gemacht hat. Er schaut mich niedergeschlagen an und sagt, dass er keines erhalten habe. Als wir bei seiner Mutter nachfragen meint sie, dass sie es für Murat sparen werde, bis er erwachsen ist. Ich erkläre ihr, dass der Sinn von Taschengeld sei, dass Kinder lernen selber mit Geld umzugehen und dass er das nur könne, wenn sie es ihm wöchentlich in die Hand drücke. Seine Mutter versteht die Idee. Sie gibt ihm zwei Franken.

Drei Wochen später erkundige ich mich erneut bei Murat, was er mit dem Geld gemacht hat. Er zählt nach, wie viel es ist. Als er realisiert, dass er sechs Franken in der Hand hält, beginnen seine Augen zu funkeln. Er erklärt mir aufgeregt, dass sechs Franken ausreichen, um das Magazin auto revue zu kaufen. Staunend erkundigt er sich, ob er das jetzt kaufen darf. Ich nicke. Er hüpft die Treppenstufen hinunter und fragt seine Mutter. Als diese ja sagt, öffnet er die Tür und rennt weg. Eine Stunde später sehe ich ihn auf dem Sofa sitzen. Er liest und scheint nichts zu hören. Als ich ihn antippe strahlt er und sagt: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mir einmal ein eigenes auto revue kaufen kann.“

Susanna Sauermost ist Sozialarbeiterin und systemische Familientherapeutin. Sie arbeitet mit Kindern, die von Gewalt welche sich von einem Elternteil gegen den anderen gerichtet hat, betroffen sind. Die ersten Berufsjahre arbeitete sie in einem Frauenhaus, seit 2009 in einer ambulanten Opferberatungsstelle. (www.okeywinterthur.ch)

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